Wirtschaftsnachrichten für Zahnärzte | DENTAL & WIRTSCHAFT
Zahnmedizin

„Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“ – die Herkunft dieses Zitates scheint unklar, oft werden Karl Valentin oder Marc Twain genannt, was aber möglicherweise nicht zutreffend ist. Prognosen den Zahnverlust oder die Progression einer Parodontitis betreffend, beschäftigen Kliniker wie Epidemiologen seit jeher.

Zahlreiche Analysen wurden vorgenommen. Manche mündeten in Schematas, andere wurden wieder verworfen. Die Schwierigkeit bei einer multifaktoriellen Erkrankung wie einer Parodontitis besteht darin, dass zahlreiche endogene sowie auch exogene Faktoren in einem komplexen Zusammenspiel miteinander über die Zeit hinweg interagieren und so die individuell variable Krankheitsentwicklung beeinflussen.

Zur Identifikation klinisch relevanter prognostischer Faktoren sind verschiedene Voraussetzungen von Nöten. Dazu gehören neben einer entsprechenden Patientenzahl, die anhand nachvollziehbarer Behandlungsprotokolle therapiert wurde, vor allem auch eine Beobachtungszeit, die eine Abschätzung der Risiken bestimmter Parameter überhaupt zulässt. Eine Publikation, die diese Kriterien erfüllt und zudem klare Hinweise für die parodontale Therapie bietet, verdient daher nun besondere Beachtung.

Methodik: Krankengeschichten mit fortgeschrittenen parodontalen Symptomen als Grundlage

Die Grundlage der hier vorliegenden retrospektiven Studie bildeten die Krankengeschichten der Patienten, die an den Zahnkliniken der Universität Bern (Schweiz) aufgrund fortgeschrittener parodontaler Symptome behandelt wurden.

Die aktive Therapie (APT) fand nach einem definierten Konzept, heute gut vergleichbar den aktuellen europäischen Leitlinien zur stufenweisen systematischen Parodontitistherapie, im dortigen Facharztprogramm in den Jahren zwischen 1978 und 2002 statt. Die parodontale Therapie umfasste eine nicht-chirurgische, ggf. eine chirurgische und ggf. auch eine prothetisch-rekonstruktive Therapie auf Zähnen oder Implantaten. Danach folgte die unterstützende Parodontitistherapie (UPT).

Ergebnisse

Es konnten insgesamt 172 Patientinnen und Patienten nach einer durchschnittlichen Beobachtungszeit von 11,3 Jahren (3-27 Jahre) nachuntersucht werden. Die Anzahl erhöhter Sondierungstiefen nahm während der UPT zu.

Mittels unterschiedlicher statistischer Verfahren konnten nun Faktoren, die eine parodontale Progression begünstigen, identifiziert werden. Die wichtigste Erkenntnis bestand darin, dass nach aktiver Therapie verbleibende erhöhte Sondierungstiefen ≥ 5 mm, ein erhöhtes Risiko für Zahnverlust darstellen (OR > 7,7). Das Risiko nimmt mit steigender verbleibender Sondierungstiefe ab 5 mm und ggf. zusätzlich positiver Blutung auf Sondieren weiter kontinuierlich zu (ST ≥ 7mm; OR 64,2).

Darüber hinaus sind die Dauer und die jährliche Frequenz der UPT, die Quantität des Tabakkonsums, Blutung auf Sondieren ≥ 30 % und die Anzahl verbliebener erhöhter Sondierungstiefen mit erhöhten Wahrscheinlichkeiten für eine Parodontitisprogression und/oder Zahnverlust assoziiert.

Klinische Schlussfolgerungen

Der Endpunkt einer nicht oder nur unzureichend behandelten Parodontitis ist der Verlust des betroffenen Zahnes. Die Vermeidung von Zahnverlust ist aus der Perspektive des Patienten ein wahrnehmbarer und für die mundbezogene Lebensqualität äußerst relevanter Parameter, geht es um den Entscheid für und den „Nutzen“ einer parodontalen Therapie. Die Analysen aus dieser Studie helfen dem Kliniker bezüglich des anzustrebenden parodontalen Therapieziels. Eine nach APT verbleibende Sondierungstiefe ≥ 6 mm ist ein wesentlicher Risikofaktor für späteren Zahnverlust. Entsprechende Sondierungstiefen benötigen daher eine weiterführende parodontale Behandlung.

Anders formuliert sind „geschlossene parodontale Taschen“, also Stellen mit Sondierungstiefen ≤ 4 mm und ohne Sondierungsblutung anzustreben. Ein Grund für diese Demarkationslinien ist wahrscheinlich in der Erreichbarkeit und damit Beeinflussbarkeit der mikrobiellen Taschenflora zu suchen. Die mikrobielle Flora ist bei nur geringfügig erhöhten Taschentiefen durch die tägliche Mundhygiene beeinflussbar. Die Effekte der häuslichen Plaquekontrolle auf die Taschenbesiedlung nehmen demgegenüber mit steigender Sondierungstiefe ab.

Sind die oben genannten Ziele erreicht, geht es in der folgenden UPT darum, den Zustand über Jahre und Jahrzehnte stabil zu halten. Die Frequenz der UPT ist da von entscheidender Bedeutung. Herausgearbeitet wurde hier, dass Intervalle von > 2 Terminen/Jahr offenbar gut vereinbar mit parodontaler Stabilität sind. Klar gezeigt werden konnte auch, dass eine Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen dem Zigarettenkonsum und der Zunahme der Sondierungstiefen in der UPT besteht. Nicht umsonst wird die quantitative Erfassung des Tabakkonsums als wesentlicher (modifizierbarer!) Risikofaktor in der neuen Klassifikation der Parodontitis adäquat berücksichtigt.

Quelle:

Matuliene G, Pjetursson BE, Salvi GE, Schmidlin K, Brägger U, Zwahlen M, Lang NP.: Influence of residual pockets on progression of periodontitis and tooth loss: results after 11 years of maintenance. J Clin Periodontol. 2008 Aug;35(8):685-95.

Prof. Dr. Clemens Walter

Prof. Dr. med. dent. Clemens Walter

Abteilung für Parodontologie, Oralmedizin und Oralchirurgie Charité Centrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Prof. Dr. med. dent. Clemens Walter erhielt seine Approbation im Jahr 2000. Von 2001 bis 2003 absolvierte er das Postgraduiertenprogramm in Parodontologie und Implantologie an der Charité Berlin. Die Promotion erfolgte 2005. Von 2010 bis 2021 war er Leiter des Weiterbildungsprogrammes Parodontologie an der Universität Basel, wo er 2012 habilitierte. 2016 wurde er Außerordentlicher Professor an der Universität Basel, 2021 übernahm er den Lehrstuhl für Zahnerhaltung, Parodontologie, Endodontologie, Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde, Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Universitätsmedizin Greifswald. Prof. Walter arbeitet in der Zahnarztpraxis Asta Fritzke in Greifswald und ist als Titularprofessor an der Abteilung für Parodontologie, Orale Medizin und Orale Chirurgie, Charité-Universitätsmedizin Berlin tätig.
Aßmannshauser Straße 4–6
14197 Berlin