Wie Sie hohe Nachzahlungen vermeiden: Sozialversicherungspflicht für Vertreter im kassen(zahn)ärztlichen Notdienst und freie Mitarbeiter in Praxen
BSG, Urteil vom 24.10.2023 – B 12 R 9/21 RKatharina Lieben-ObholzerEin Zahnarzt, der als „Pool-Arzt“ im vertragszahnärztlichen Notdienst tätig war klagte vor dem Bundessozialgericht gegen die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg, (KZV BW) die für ihn als vermeidlich selbstständigen Arzt über Jahre keine Sozialversicherungsbeiträge zahlte.
Die Sozialversicherungspflicht eines Beschäftigungsverhältnisses hängt davon ab, ob eine abhängige Anstellung oder eine selbständige Tätigkeit ausgeübt wird. Dabei kommt es auf die Abläufe in der betrieblichen Organisation und auf das Unternehmerrisiko des Beschäftigten an. Dass die Abgrenzung nicht einfach ist, zeigt eindrucksvoll eine aktuelle Entscheidung des Bundessozialgerichts. Nachdem die Deutsche Rentenversicherung, das Sozialgericht und das Landessozialgericht BW eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit im konkreten Fall ablehnten, bejahte das Bundessozialgericht diese.
Entscheidend ist die konkrete Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses. Es zählt, was tatsächlich geschah, und nicht, was im Vertrag vereinbart oder gewollt war.
1. Sachverhalt:
Im entschiedenen Fall ging es um einen Zahnarzt, der seine Praxis 2017 verkauft hatte und nicht mehr an der vertragszahnärztlichen Versorgung teilnahm. Im Auftrag der KZV BW wurde er jedoch -überwiegend am Wochenende zu Notdiensten eingeteilt. Er erhielt für die Tätigkeit einen festen Stundensatz zwischen 34 und 50 Euro. Den Notdienst erfüllte der Zahnarzt in Räumlichkeiten eines Notfalldienstzentrums, das von der KZV BW betrieben wurde. Die Räumlichkeiten waren mit Geräten und Materialien ausgestattet. Dem klagenden Zahnarzt wurden auch von der KZV BW zwei zahnmedizinische Fachangestellte zur Verfügung gestellt, die Assistenz- und Dokumentationstätigkeiten ausführten.
2. Verfahrensablauf:
Auf den Statusfeststellungsantrag des Zahnarztes (Klägers) stellte die Deutsche Rentenversicherung Bund fest, dass die Tätigkeit des Zahnarztes nicht im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt worden sei. Es bestünde somit keine Versicherungspflicht. Auch das Sozialgericht wies die Klage des Zahnarztes ab und das Landessozialgericht wies die Berufung zurück. Der Kläger sei durch die KZV BW mittels Verwaltungsakts zum zahnärztlichen Notdienst herangezogen worden; das Rechtsverhältnis sei durch öffentlich-rechtliche Normen geprägt. Der Zahnarzt legte gegen die Entscheidung schließlich Revision ein und das Bundessozialgericht entschied, dass eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit vorliegt. Der Zahnarzt erhielt somit in der letzten Instanz Recht und hatte folglich u. a. einen Anspruch auf Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen.
3. Warum ist die Klärung der Sozialversicherungspflicht wirtschaftlich und rechtlich für den Auftraggeber so wichtig?
Die Rechtsfolgen, wenn eine gewollte selbständige Tätigkeit als abhängige Beschäftigung gewertet wird, sind für den Auftraggeber - zum Beispiel Praxisinhaber, Klinik, Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen - von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung. Betroffen sind neben den Ärzten im Notdienst und mobilen Ärzten in Praxen und Kliniken auch sonstiges im Gesundheitsunternehmen eingegliedertes Personal, wie zum Beispiel Abrechnungsfachkräfte, die auf selbständiger Basis tätig sein sollen.
Warum die Prüfung der Sozialversicherungspflicht so wichtig ist, zeigen die folgenden möglichen rechtlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen, die jeder Unternehmer kennen sollte:
Sozialversicherungs- und arbeitsrechtliche Konsequenzen
Bestand eine Sozialversicherungspflicht, die erst nachträglich festgestellt wird, so wird der Auftraggeber zum Arbeitgeber und muss eine Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen für den Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren sowie Säumniszuschläge (KV, ALV, RV, PV, UV) leisten. Der Zeitraum kann sich auf bis zu 30 Jahre bei vorsätzlichem Handeln verlängern (§ 25 Abs. 1 SGB IV).
Ein Rückzahlungsanspruch gegen den Arbeitnehmer kann nur durch einen Abzug vom Arbeitsentgelt im Rahmen der nächsten drei Gehaltszahlungen geltend gemacht werden, § 28g SGB IV. Damit haftet der auftragnehmende (Zahn)Arzt im Gegensatz zum Auftraggeber nur für maximal drei Monate.
Wenn das Arbeitsverhältnis bereits beendet ist, scheidet ein Erstattungsanspruch aus. Der Auftragnehmer könnte auch u. a. Ansprüche auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaub und ggfs. Mutterschutz und Elternzeit geltend machen oder sich auf Kündigungsschutzrechte berufen.
Gewerbesteuerpflicht und Lohnsteuernachzahlung
Darüber hinaus besteht das Risiko, dass eine Praxis im Zusammenhang mit dem Auftreten einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung als gewerblich qualifiziert wird, eine Gewerbesteuerpflicht entsteht und Lohnsteuer nachzuzahlen ist.
Regresse und Entzug der vertragsärztlichen Zulassung
Vertrags(zahn)ärztlichen Berufsausübungsgemeinschaften drohen weitergehende Konsequenzen. Die KV/KZV kann in einem solchen Fall die Honorarbescheide sachlich-rechnerisch richtigstellen und gezahlte Honorare zurückfordern (BSG, Urteil vom 23.06.2010 - B 6 KA 7/09 R). Auch besteht das Risiko eines Entzugs der vertragsärztlichen Zulassung (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21.09.2022 - L 7 KA 4/20).
Strafrechtliche Konsequenzen
Letztendlich drohen strafrechtliche Konsequenzen wegen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB).
Vor diesem Hintergrund sollten alle bestehenden und geplanten Auftragsverhältnisse, die keine abhängige Beschäftigung darstellen, geprüft werden. Dies betrifft nach der Entscheidung des BSG auch die Ärzte, die im vertrags(zahn)ärztlichen Notdienst tätig sind.
4. Greift bei Beschäftigungsverhältnissen als „Pool(zahn)arzt“ eine Ausnahmeregelung?
Ein (Zahn)Arzt, der als sogenannter „Pool-Arzt“ im vertrags(zahn)ärztlichen Notdienst tätig ist, geht nicht in jedem Fall einer selbständigen Tätigkeit nach, nur weil er an der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung teilnimmt.
Überwiegend ist der Bereitschaftsdienst mit Vertragsärzten besetzt, in Teilen wirken auch sogenannte Pool(zahn)ärzte mit. Als solche werden Ärzte bezeichnet, die in der Regel ein anderes Arbeitsverhältnis haben, z. B. Klinikärzte oder Ruheständler sind und dadurch die Zeiten des Notfalldienstes mit gewährleisten.
Die Annahme, dass allein die Teilnahme am Notdienst eine Selbstständigkeit begründet, weil man damit an der vertragszahnärztlichen Versorgung im Sinne von § 75 SGB V teilnimmt, lehnte das Bundessozialgericht in seiner aktuellen Entscheidung vom 24.10.2023 ab.
Die Besonderheiten des Vertrags(zahn)arztrechts rechtfertigen allgemein keine abweichende Entscheidung. Auch eine durch einen Verwaltungsakt begründete Tätigkeit kann als abhängige Beschäftigung i. S. d. § 7 Abs. 1 SGB IV ausgeübt werden.
5. Umstände des Einzelfalls sind im vertrags(zahn)ärztlichen Notdienst stets entscheidend
Ob eine selbständige oder sozialversicherungspflichtige Tätigkeit vorliegt, orientiert sich vielmehr an den konkreten Umständen des Einzelfalles und kann für die Tätigkeit eines (zahn)Arztes nicht allgemein bestimmt werden. Denn die Gestaltungsmöglichkeiten im vertrags(zahn)ärztlichen Notdienst sind vielfältig:
Einrichtung eines ärztlichen Not- und Bereitschaftsdienstes zu sprechstundenfreien Zeiten, an dem Vertragsärzte oder hierfür ermächtigte oder kooperierende Ärzte teilnehmen und in Ihren Praxen, ggf. durch Hausbesuche zur Verfügung stehen
Einrichtung eines mobilen Not- und Bereitschaftsdienstes („Taxi-Arzt“)
Einrichtung einer durch die KÄV betriebenen Notfallpraxis, in der Vertragsärzte oder hierfür ermächtigte oder kooperierende Ärzte Dienst tun
Für Notfallbehandlungen ermächtigten Krankenhäuser
Kooperationen mit nicht ermächtigten Krankenhäusern
Angesichts dieser Vielfältigkeit kann ein einheitlicher sozialversicherungspflichtiger Erwerbsstatus von den vertrags(zahn)ärztlichen Notdienst wahrzunehmenden Ärzten nicht bestimmt werden.
6. Abgrenzung arbeitsrechtlicher Arbeitnehmerbegriff und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erforderlich
Im konkreten Fall lehnte das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg (LAG) die Arbeitnehmereigenschaft eines Zahnarztes im Notdienst ab, das Bundessozialgericht (BSG) bejahte hingegen eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit des Zahnarztes. Die genannten Entscheidungen verdeutlichen, dass die sozialversicherungsrechtliche und arbeitsrechtliche Beurteilung separat bewertet und auseinanderfallen können.
Arbeitsrechtlicher Arbeitnehmerbegriff: In einem Arbeitsverhältnis steht der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber regelmäßig mit seiner persönlichen Arbeitskraft zur Verfügung, ohne dass der Arbeitnehmer von sich aus entscheiden kann, eine andere Person mit der Erbringung der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung zu beauftragen. Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienste eines Anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen. Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann, § 611a BGB.
Sozialversicherungsrechtlicher Beschäftigungsbegriffs (§ 7 SGB IV): Beschäftigung ist nach dieser Vorschrift die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine abhängige Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer von dem Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall,
wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und
in Bezug auf Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung
einem umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann - vornehmlich bei Diensten höherer Art - eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert sein.
Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das
eigene Unternehmensrisiko,
das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte,
die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit
gekennzeichnet. Ob jemand beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich danach, welche Umstände das Gesamtbild der Arbeitsleistung prägen und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen.
7. Anwendung der oben genannten Grundsätze auf den konkreten Fall
Das BSG gab dem Zahnarzt Recht und bejahte die Versicherungspflicht, weil die KZV BW den Zahnarzt in die Abläufe des Notfalldienstzentrums eingegliedert habe. Hierauf habe der Zahnarzt keinen unternehmerischen Einfluss gehabt. Zudem sei der Zahnarzt unabhängig von konkreten Behandlungen stundenweise bezahlt worden.
Dass der Zahnarzt im Rahmen seiner Tätigkeit bei der konkreten medizinischen Behandlung frei und eigenverantwortlich handeln konnte, fällt nach Auffassung des Bundessozialgerichts dagegen nicht ins Gewicht. Unmittelbar nach der Urteilsverkündung hatten mehrere Kassenärztliche Vereinigungen Konsequenzen aus der Entscheidung gezogen und den Einsatz von Poolärzten beendet.
8. Handlungsempfehlungen
Eine zuverlässige und generelle Einordnung der Tätigkeit von Ärzten im vertrags(zahn)ärztlichen Notdienst und weiteren honorarärztlichen Tätigkeiten ist im Einzelfall konkret zu prüfen. Dabei sollten die Gesamtumstände der Kooperation beachtet und neben den vertraglichen Vereinbarungen vor allem die tatsächlichen Verhältnisse der Vertragsdurchführung berücksichtigt werden.
Insbesondere sollte der freiberuflich tätige (Zahn)Arzt und sonstige Auftragnehmer:
Seine Pflichten eigenverantwortlich und damit frei von fachlichen Weisungen leitender Ärzte oder organisatorischen Weisungen des Auftraggebers erfüllen.
Für mehrere Dienstberechtigte tätig sein.
Eine „Eingliederung in die Arbeitsorganisation“ sollte vermieden werden, insbesondere sollte er nicht an Besprechungen teilnehmen.
Die ständige Dienstbereitschaft oder kontinuierliche Patientenversorgung sollte nicht vertraglich geschuldet sein.
Eine Vergütung sollte nur für geleistete Dienste gezahlt werden, ohne Entgeltfortzahlung für Urlaub oder Krankheitsfall.
Keine Berufskleidung und möglichst keine medizinischen Geräte vom Auftraggeber gestellt bekommen.
Die Arbeitnehmerüberlassung ist eine mögliche Alternative zum Einsatz von Honorarärzten. Der Arzt bindet sich vertraglich an eine Agentur, die ihn an den Arbeitgeber verleiht. Rechtlich erbringt der Arzt seine Leistung gegenüber dem Arbeitgeber (Entleiher). Für eine Arbeitnehmerüberlassung ist eine Erlaubnis gemäß § 1 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz erforderlich. Diese sollte sich der Arzt vorlegen lassen. Die Agentur ist nach Vertragsabschluss in der Regel zur Einhaltung der Arbeitgeberpflichten und Lohnfortzahlung verpflichtet. Derzeit ist die Arbeitnehmerüberlassung aus Kostengründen noch eher eine Ausnahme.
Statusfeststellungsverfahren bei der Deutschen Rentenversicherung Bund
Ein Statusfeststellungsverfahren bei der Deutschen Rentenversicherung Bundsollte in Betracht gezogen werden, wenn der Unternehmer Tätigkeiten an freie Mitarbeiter auslagern möchte. Die Deutsche Rentenversicherung Bund – Clearingstelle übernimmt die Prüfung im Auftrag aller Sozialversicherungsträger. Antragsberechtigt sind sowohl der Auftragnehmer als auch der Auftraggeber. Wird das Anfrageverfahren binnen eines Monats nach Aufnahme der Tätigkeit eingeleitet, tritt eine eventuell festgestellte Sozialversicherungspflicht erst mit dem Tag der Bekanntgabe der Entscheidung über das Vorliegen eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ein.
Vorsorglich empfiehlt es sich daher, komplexe Verträge, wie Praxiskaufverträge und Gesellschaftsverträge durch Juristen erstellen zu lassen, die eine entsprechende Expertise im Medizinrecht/Vertragsarztrecht aufweisen.