Wie sinnvoll ist die prophylaktische Gabe eines Antibiotikums?
Melanie SöchtigBlutige Eingriffe im Mundraum können Infektionen von Endoprothesen nach sich ziehen. Deutsche und amerikanische Fachgesellschaften empfehlen deshalb bislang die vorsorgliche Verabreichung eines Antibiotikums. Die Ergebnisse einer aktuellen Studie lassen nun Zweifel aufkommen, ob das wirklich nötig ist.
Parodontosebehandlung, Zahnprophylaxe, Zähne ziehen – bei blutigen Eingriffen besteht immer die Gefahr, dass Bakterien in die Blutbahn gelangen und künstliche Hüft- oder Kniegelenke besiedeln. Diese Infektionen können auch noch Jahrzehnte nach der Implantation auftreten und zur Lockerung des Kunstgelenks führen. Deshalb empfehlen die American Academy of Orthopaedic Surgeons (AAOS) und die AE – Deutsche Gesellschaft für Endoprothetik, Trägern eines Implantats eine Stunde vor einem invasiven zahnmedizinischen Eingriff einmalig zwei Gramm des Antibiotikums Amoxicillin (Off-Label) zu verabreichen.
Doch nicht alle Länder haben sich dieser Empfehlung angeschlossen. So wird beispielsweise in England die Antibiotikaprophylaxe nicht standardmäßig durchgeführt. Hier haben Forschende jetzt eine Kohortenstudie auf der Basis von Patientendaten aus dem National Health Service (NHS) aus den Jahren 2011 bis 2017 durchgeführt. Insgesamt werteten sie die Datensätze von knapp 9.500 Patienten mit Spätinfekten (< 3 Monate nach Implantation) ihrer Gelenkprothesen und einer vorangegangenen invasiven Zahnbehandlung aus.
Auf der Suche nach den Schuldigen
Bei 4.338 Patienten lagen den Forschenden Informationen darüber vor, welcher Erreger die Infektion verursacht hatte. Orale Streptokokken wurden dabei in 9,4 Prozent der Fälle „schuldig gesprochen“. Mehr als die Hälfte (53,3 %) der Infektionen ließ sich auf Staphylokokken zurückführen. In den restlichen Fällen handelte es sich um gemischte Infektionen (12,5 %) oder um Infektionen durch andere (nicht orale) Streptokokken (4,9 %) bzw. andere Organismen (19,9 %).
Weiterhin untersuchten die Wissenschaftler, inwiefern das Auftreten der Infektionen mit einer vorangegangenen blutigen Zahnbehandlung in Verbindung gebracht werden kann. Dabei konnten sie keinen kausalen Zusammenhang feststellen. Wahrscheinlich seien die durch orale Streptokokken verursachten Spätinfekte eher auf Zahnpflegeroutinen zurückzuführen – so die Vermutung der Studienautoren. Von einer routinemäßigen Antibiotikaprophylaxe raten sie daher ab.
„Wir begrüßen diese wichtige neue Studie und prüfen eine Anpassung unserer Empfehlung“, sagt AE-Generalsekretär Perka. In einem Update ihrer Handlungsempfehlungen vom 23. Januar äußerte sich die AE jedoch wie folgt: „In Anbetracht der langen Behandlung mit möglichen Komplikationen, der hohen Morbidität und der beträchtlichen Versagerrate nach Behandlung einer hämatogenen Protheseninfektion, favorisieren wir nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Analyse nach wie vor den Einsatz der antibiotischen Prophylaxe vor blutigen Zahneingriffen, auch wenn bisherige Studien dies nicht untermauern können.“
Mehr Fokus auf die Zahngesundheit
„Ein erster Schritt ist sicherlich, statt einer generellen Antibiotikaprophylaxe insgesamt mehr Awareness und Aufklärung für die Bedeutung von Zahngesundheit bei Trägern von Endoprothesen zu schaffen“, sagt Privatdozent Dr. Stephan Kirschner, Präsident der AE und Direktor der Klinik für Orthopädie in den ViDia Kliniken Karlsruhe. Vor dem Eingriff sollte der Zahnstatus überprüft und gegebenenfalls saniert werden. Zahnhygiene mit einer mindestens halbjährlichen Kontrolle durch den Zahnarzt sei zudem fester Bestandteil der eigenen Fürsorge für den Gelenkersatz, so Kirschner.
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