Künstliche Intelligenz in der Zahnmedizin, Teil 1
D&W RedaktionKünstliche Intelligenz ist auch in der Zahnmedizin eine Revolution. Die Bedeutung der KI für die Diagnose, Behandlungsplanung und das Praxismanagement wird zunehmen. Im ersten Teil seines zweiteiligen Artikels erklärt Autor Bruce Lieberthal *, was KI ist und was wir in der Zahnmedizin von ihr erwarten können.
Die Bedeutung der künstlichen Intelligenz in der Zahnmedizin steigt parallel zum Zuwachs neuartiger Lösungen in unserem täglichen Leben. Tatsächlich sind zwar viele KI-Lösungen neu, die KI an sich ist es jedoch keineswegs. In diesem Artikel erklärt Bruce Lieberthal, was KI ist und welche Wurzeln sie hat. In Teil 2 werden aufregende, klinische und geschäftliche Dentallösungen beschrieben, die dank künstlicher Intelligenz für die Zahnmedizin verfügbar sind.
Wie alles begann: die Geschichte der künstlichen Intelligenz
KI wird als Marketing-Taktik oft und fälschlicherweise an die Stelle jeder Art von Automatisierung gesetzt. Marketing-Fachleute verwechseln häufig digital intelligente Lösungen mit echter künstlicher Intelligenz. Die KI ist aber deshalb etwas ganz Besonderes, weil sie potenziell in Wettstreit tritt mit einem denkenden Wesen – und somit unsere Vorrangstellung als das intelligenteste uns bekannte Wesen infrage stellt.
Als Geburtsstunde der künstlichen Intelligenz gilt eine Konferenz am Dartmouth College im US-amerikanischen New Hampshire im Jahr 1956. Auf ihr wurde der Begriff künstliche Intelligenz erstmals verwendet [1]. Die Anfänge der KI waren jedoch eher Science-Fiction als Wissenschaft. Unsere Vorstellungskraft zeichnete, genährt durch Filme, Magazine und Bücher, ein fantastisches Bild davon, wozu Roboter und Maschinen dank KI fähig seien. In diesen Fantasien stellen Computer im Wesentlichen eine neue Spezies dar, während der Mensch eine untergeordnete Rolle spielt [2, 3].
Die Vorstellung von einer KI ist nicht neu, doch die Realität der KI hat die Vision (beinahe) eingeholt. Der Grund dafür: Die enorme Rechenleistung für die KI-Lösungen und der hohe Entwicklungsstand der Software sind bereits heute vorhanden und werden – gemäß dem Mooreschen Gesetz [4] – immer besser.
Was künstliche Intelligenz wirklich ist
KI unterscheidet sich von der Automatisierung, welche lediglich denselben Vorgang unablässig wiederholt. KI ist Computersoftware, die menschliches Denken und menschliche Argumentation widerspiegeln oder nachahmen kann.
KI-Software nutzt ihr Wissen, um Probleme zu lösen, die ihr gestellt werden. Sie kann auch neue Probleme erkennen, analysieren und lösen. Jene Komponente der KI, die der Software das Lernen ermöglicht, wird als maschinelles Lernen (ML) oder auch Deep Learning [5] bezeichnet.
Hier ein einfaches Beispiel: Wenn wir eine ML-Engine entwickeln, die einer Software beibringt, wie ein Schaf aussieht, zeigen wir ihr Hunderte oder Tausende von Bildern von Schafen. Zeigen wir dann diesem Software-Algorithmus ein Bild, das er noch nie zuvor gesehen hat, kann er das Schaf auf dem Bild korrekt identifizieren. Wird ein Bild vorgelegt, das keine Schafe enthält, erkennt die Software, dass es keine Schafe auf dem Bild gibt. Diese Mustererkennung wird als Computer Vision bezeichnet.
Computer Vision kann zur Entwicklung von Software in der Zahnmedizin eingesetzt werden. Sie wird als Entscheidungsunterstützungssystem bezeichnet. Sie hilft Zahnärzten dabei, Läsionen und Pathologien wie Karies, periapikale Läsionen, parodontalen Knochenabbau usw. schneller und genauer zu erkennen.
Die Phasen der künstlichen Intelligenz
Wir befinden uns zwar in der frühesten Phase der künstlichen Intelligenz, Wissenschaftler haben aber zwei weitere Phasen definiert, die noch in der Zukunft liegen (siehe Tabelle). Wir befinden uns in der ersten Phase, der „schwachen KI“ (ANI): KI-Systeme werden durch maschinelles Lernen darauf trainiert, eine Sache sehr gut zu machen. Im Beispiel oben ging es darum, Bilder mit und Bilder ohne Schafe zu erkennen. Wenn die KI ein Bild ohne Schafe identifiziert, kann sie allerdings noch nicht feststellen, ob es sich bei dem „Nicht-Schaf“ um eine Katze oder einen Hund handelt. Sie erkennt lediglich, dass es sich nicht um ein Schaf handelt.
Phase | Fähigkeiten | Beschreibung |
Schwache KI (Artificial Narrow Intelligence ANI) | Fähigkeit, programmierte Aufgaben auszuführen. | Die Phase, in der wir uns derzeit befinden, ist die erste und früheste. Technische Systeme können in einem engen Kontext eine begrenzte Intelligenz aufweisen. Ein KI-System kann bspw. eine bestimmte Sache tun, ist aber nicht allgemein intelligent. |
Künstliche allgemeine Intelligenz (Artificial General Intelligence AGI) | Systeme, die ähnlich wie ein Mensch üben, lernen, verstehen und Aufgaben ausführen können | Dies ist eine Phase, in der Computerplattformen im Allgemeinen intelligent sind und viele programmierte und erlernte Verhaltensweisen ausführen können. Die sogenannte Singularität ist das, was AGI und ASI voneinander trennt. |
Künstliche Superintelligenz (Artificial Super Intelligence ASI) | Denken und Verarbeiten jenseits menschlicher Fähigkeiten; Erreichen und Überschreiten der Singularität | Dieser Zustand geht über den menschlichen Verstand hinaus. Es ist die Phase, in der die Datenverarbeitung die Singularität und Fähigkeiten von KI-Systemen hinter sich lässt. Die Filmindustrie konzentriert sich mit der Darstellung bösartiger Computer, die mit dem Menschen in Wettstreit treten, häufig auf diese Phase. |
Was uns nach der „schwachen KI“ erwartet
KI-Experten spekulieren darüber, wie lange es dauern wird, bis eine allgemeine künstliche Intelligenz (Artificial General Intelligence, AGI) erreicht ist, bei der ein Algorithmus mehrere Dinge auf einmal tun kann [6]. Im Zustand der AGI erkennt die Software im Beispiel mit den Schafen nicht nur die Schafe, sondern auch den Hund und die Katze richtig. Die nächste Phase nach der AGI ist die künstliche Superintelligenz. Sie erreicht die menschliche Intelligenz erreicht oder übertrifft sie [7]. Es lässt sich nur schwer vorhersagen, wann dies der Fall sein wird. Die Prognosen vermuten ungefähr ab 2045 bis etwa in 40 Jahren oder später von heute aus betrachtet.
KI wird die Art und Weise, wie Zahnmediziner praktizieren und eine Praxis führen, verändern. Im zweiten Teil des Beitrags erfahren Sie, welche Beispiele es bereits gibt und wohin die Entwicklung in der Zahnmedizin geht.
Unser Autor:
* Bruce Lieberthal ist Chief Innovation Officer bei Henry Schein, Inc. In dieser Funktion evaluiert er Hunderte von innovativen Lösungen und Technologien, berät die medizinischen und zahnmedizinischen Geschäftsbereiche von Henry Schein zu bedeutenden neuen Entwicklungen und hilft dabei, die globalen Verkaufs-, Marketing- und Vertriebskapazitäten des Unternehmens mit wichtigen neuen Produkten zu verbinden, die den Kunden dabei helfen, ihre Praxisführung zu optimieren und eine hervorragende Patientenversorgung zu bieten.
Anmerkungen und Literatur
[1] So heißt es im AI Magazine (Band 27, Nummer 4 des Jahres 2006) im Artikel The Dartmouth College Artificial Intelligence Conference: The Next Fifty Years von James Moore, das Dartmouth Summer Research Project on Artificial Intelligence (DSPRAI) wurde 1956 einberufen, um zu ermitteln, wie weit die künstliche Intelligenz bereits gekommen war und wohin sie sich entwickeln würde. Den Begriff Künstliche Intelligenz ersannen Marvin Minsky und John McCarthy in der ursprünglichen Vorlage für die Konferenz.
[2] Das klassische Vorbild für KI in Filmen ist 2001: A Space Odyssey aus dem Jahr 1968, in dem HAL 9000 – der Bordcomputer eines Raumschiffs – bemerkt, dass die Menschen ihn außer Gefecht setzen wollen, und gegen sie vorgeht.
[3] Wussten Sie, dass R2-D2 für „Second Generation Robotic Droid Series-2“ steht?
[4] Das Mooresche Gesetz ist ein vom Intel-Pionier Gordon Moore erdachtes Konzept, demzufolge sich die Zahl der Transistoren auf Computerchips – die als Entscheidungspunkte dienen – etwa alle zwei Jahre verdoppelt, während sich die Kosten ungefähr halbieren. https://www.britannica.com/technology/Moores-law
[5] Maschinelles Lernen (ML) bezieht sich auf die Verfahren, mit denen KI-Systemen beigebracht wird, was sie zu tun haben. Beim ML wird den Rechenalgorithmen wiederholt eine große Menge an Daten vorgelegt, damit sie neue Daten betrachten und erkennen können. Deep Learning bezeichnet maschinelles Lernen auf einer tieferen, weitaus anspruchsvolleren Ebene unter Verwendung von Softwaremodellen, die als neuronale Netze bezeichnet werden und die Komplexität der vielschichtigen Struktur der Neuronen in unserem Gehirn simulieren.
[6] Unter https://research.aimultiple.com/artificial-general-intelligence-singularity-timing/ finden Sie eine interessante Diskussion über das Erreichen der Phase AGI bis etwa 2050.
[7] In Zusammenhang mit KI wird der Moment, in dem Computer über ein Denkvermögen und eine Intelligenz verfügen, die der menschlichen Intelligenz gleichkommen, als (technologische) Singularität bezeichnet.